[Rezensionsexemplar]
Zum Inhalt:
Die Erde in der Zukunft. Nach globalen Katastrophen – ausgelöst von machtbesessenen Männern – die viele Menschen das Leben gekostet haben, haben die Frauen das Zepter übernommen. Männer existieren im normalen Alltag nicht mehr. Die wenigen, die noch leben, sind eingesperrt in Laboren überall auf dem Planeten. Aus Forschungszecken und um Sperma für weiblichen Nachwuchs zu spenden.
Zoe, Professorin für Männliche Psychologie – glücklich verheiratet mit ihrer Frau – hat noch nie einen Mann in Natura gesehen. All ihr Wissen stammt aus Büchern.
Eines Tages – kurz nach dem Tod ihrer Mutter – bekommt sie vom hiesigen Labor ein Jobangebot. Sie soll Flynn zum Reden bringen. Flynn, der dank der Flucht seiner Mutter vor vielen Jahren einst noch in Freiheit geboren wurde und 14 Jahre später aufgegriffen wurde.
Zoe willigt ein. Zu groß ist die Neugier, einem echten Mann zu begegnen und natürlich ist es auch ein großer Karriereschritt.
Und dann begegnet ihr Flynn. Schweigsam und rebellisch zugleich. Er ist vollkommen anders, als Zoe sich einen Mann vorgestellt hat.
Im Lauf der Sitzungen fühlt sich ihm verbundener als gut für sie ist. Plötzlich ist er kein Forschungsprojekt mehr, sondern ein Mensch mit Gedanken und Gefühlen. Ein richtiger Mensch…
Meine Meinung:
Ich habe von Carina Bartsch bisher „Kirschroter Sommer“, Türkisgrüner Winter“ und „Nachtblumen“ gelesen und alle drei geliebt.
Also war auch klar, dass ich „Niemannswelt – Als ich mich verlor, habe ich Dich gefunden“ unbedingt lesen möchte.
Ich mag Dystopien und diese unterscheidet sich ganz gravierend von den meisten Dystopien, die ich bisher gelesen habe. Während es oftmals die Frauen diejenigen sind, die unterdrückt werden (z.B. in „Der Report der Magd“ oder „Vox“), ist das in dieser Geschichte umgekehrt. Hier sind es die Männer, die unterdrückt werden.
Der kleine Ort, in dem Zoe mit ihrer Frau lebt, ist so ganz anders als alles, was wir kennen. Männer sind nicht mehr existent im Leben der Frauen. Sie heiraten einander, üben alle Berufe selbst aus. Sie gehen achtsam mit den Ressourcen des Planeten um. Es gibt klare Regeln und ein großes Gemeinschaftsgefüge. Der einzige Moment im Leben einer Frau, in der Männer ganz kurz wichtig sind, ist bei der künstlichen Befruchtung. Als Samenspender. Dafür werden sie in sogenannten Laboren untergebracht. Im Hochsicherheitstrakt.
Niemand hinterfragt das. Auch Zoe nicht. Zoe, die einen Narren an der theoretischen männlichen Psychologie gefressen hat. Zoe, die durch den Tod ihrer Mutter emotional sehr aus dem Gleichgewicht gerät. Zoe, die eigentlich nicht wirklich Nachwuchs will, aber dem Drängen ihrer Frau Bridget nachgibt, damit die Ehe nicht in eine Schieflage gerät.
Männer gelten als gefährlich. Brutal. Es gilt die Auffassung, dass jeder Mann den Frauen in seinem Leben mindestens einmal Gewalt antun wird. So oder so. Deswegen müssen Männer weggesperrt werden. Deswegen dürfen Männer im Leben der Frauen schlichtweg nicht mehr existieren.
Zoe glaubt das auch. Ohne es jemals zu hinterfragen. Und dann begegnet ihr Flynn.
Flynn, der als 14jähriger nach vielen Jahren der Flucht doch noch dem matriarchalischen System zum Opfer fällt. Flynn, der verzweifelt seine Freiheit zurückwill. Flynn, der seine Mutter vermisst und sie unbedingt wiedersehen will. Flynn, der mit den Möglichkeiten, die ihm bleiben, rebelliert und nicht aufgibt.
Was für Zoe zuerst als reines Forschungsprojekt beginnt, verändert ihr Leben. Ihre Sicht auf die Welt, in der sie lebt. Zuerst merkt sie das nicht, doch Flynn – der sich auch ihr und ihren Fragen irgendwann nicht mehr entziehen kann und dann beginnt, mit Zoe zu reden, sagt immer wieder Dinge, die sich in ihren Kopf brennen und ihre heile Welt und starke Überzeugung gefährlich ins Wanken bringen. Flynn verändert alles. Seine Worte. Sein Dasein. Die Zeit, die sie miteinander verbringen. Das alles verändert Zoe. Und sie fühlt sich zu ihm hingezogen. Immer stärker spürt sie das. Und kann doch nichts dagegen tun.
„Was sie verlangen, ist harter Tobak“, sage ich stattdessen. „Nein Zoe. Was ihr mir hier zumutet, ist harter Tobak“ – Seite 193
„Wenn mein Geschlecht wirklich so grausam war, wie ihr behauptet, dann hättet ihr Euch anders zur Wehr setzen müssen.“
„Und was wäre eine angemessene Gegenwehr gewesen?“
Er ließ mich lange auf eine Antwort warten, so dass ich mir schon fast sicher war, er hätte keine.
„Ihr hättet Euch besser durchsetzen und härtere Strafen für Gewalt an Frauen verhängen müssen.“ sagte er schließlich. „Ihr hättet zusammenhalten müssen. Alle Frauen auf der ganzen Welt. Ihr hättet kämpfen müssen an der Seite von Opfern, denen Gewalt und Unterdrückung widerfahren ist – über alle Kontinente hinaus. Stattdessen seid ihr selbst grausam geworden.“ – Seite 263
An dieser Stelle kann ich Flynn nur zum Teil recht geben, denn natürlich sollten wir alle gemeinsam zusammenstehen, um der Gewalt Einhalt zu gebieten. Aber eben alle zusammen. Unabhängig vom Geschlecht. Männer wie Frauen. Zumindest in der jetzigen Welt, in der Männer existieren und wir Frauen durchaus immer noch an zu vielen Stellen unter dem Patriachat und Gewalt durch Männer leiden. Auch ich habe da meine eigenen Erfahrungen gemacht.
Ich habe mich vor dem Lesen gefragt, ob ich denn – wenn die Rollen vertauscht sind, wenn Männer diejenigen sind, die unterdrückt werden – genauso zornig und wütend reagieren werde, wie es der Fall ist, wenn Frauen unter Unterdrückung und Gewalt leiden. Oder ob die Tatsache, dass es eben andersrum ist, irgendetwas an meiner Sichtweise ändern und die Unterdrückung von Männern auf irgendeine Art und Weise in Ordnung finden würde.
Und nein, es macht mich genauso wütend. Kein Unterschied. Gewalt und Unterdrückung ist niemals ok. Unabhängig von Geschlecht, Religion oder Herkunft.
Es geht immer um den einzelnen Menschen. Niemals um alle. Gewalt ist niemals ok. Aber es sind niemals alle pauschal schuld. Immer nur der einzelne Mensch, der sich dafür entschieden hat, anderen Gewalt anzutun.
„Es gibt eine Begründung. Eine ziemlich gewichtige und ausschlaggebende sogar. Und trotzdem… Reicht die Begründung wirklich aus, um unser Handeln zu rechtfertigen?“ – Seite 319
Ich kann das für mich persönlich sehr klar beantworten. Nein, für mich reicht das nicht aus. Aber das ist meine persönliche Meinung. Und ein Satz, über den ich sehr lange habe nachdenken müssen. Wo ist die Grenzen zwischen Einzelfallentscheidungen und vorbeugenden Maßnahmen? Welche Alternativen sind denkbar?
Das Buch regt sehr zum Nachdenken an. Zum Hinterfragen der aktuellen Gesellschafft in der wir alle leben. Zum Hinterfragen des eigenen Handels. Was kann ich denn tun, um Gewalt zu verhindern und mich mit Menschen, die Gewalt erfahren, zu solidarisieren? Wie kann ich die Welt ein Stück weit sicherer und besser machen? Wo sehe ich da meine eigene Verantwortung?
Das sind die Gedanken, die ich aus dieser Geschichte mitnehme. Und die mich hoffentlich achtsamer und couragierter mit Situationen, in denen Gewalt eine Rolle spielt, umgehen lassen.
Die Geschichte ist auf mehrere Bände ausgelegt und ich habe den ersten Band nicht aus der Hand legen können. Es war mir schlichtweg nicht möglich und ich kann es kaum erwarten, die Geschichte von Zoe und Flynn weiterzulesen. Und frage mich bereits jetzt, wie es weitergehen kann, weitergehen soll. Gibt es in so einer Welt ein Happy End – wie auch immer das aussehen könnte?
Carina Bartsch ist eine Meisterin im Erfinden von Geschichten. Ihre Charaktere, die Orte in denen sie leben werden in ihren Büchern lebendig. Die Emotionen und Gedanken ihrer Protagonisten werden vom Leser gefühlt. Auf jeder Seite. Man kann sich dem gar nicht entziehen.
Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung für „Niemannswelt“ und ich bedanke mich von Herzen bei Carina Bartsch für das Rezensionsexemplar.
Eine großartige Geschichte, die mich sehr lange nicht loslassen wird.
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