[Eigenes Exemplar]

Zum Inhalt:

Jule führt eigentlich eine glückliche Beziehung, dachte sie. Doch dann geschieht etwas, was sie in ihren Grundfesten erschüttert. Sie fährt erstmal zu ihren Eltern, um zu überlegen, was sie nun tun soll. Dort erfährt sie überraschend vom Tod der ihr unbekannten Großmutter. Sie fährt mit ihrer Mutter zu dem Haus ihrer Kindheit, um den Nachlass zu ordnen. Nichtsahnend, dass sie dort einem dramatischen Familiengeheimnis auf die Schliche kommt….

Meine Meinung:
Erstmal vorweg: Spoilerwarnung / Triggerwarnung!

In dieser Geschichte geht es um häusliche Gewalt und die Geschichte geht unter die Haut.

Die Geschichte spielt in zwei Zeiten:

Da ist zum einen die Gegenwart, in der Jule ihre eigene Beziehung in Frage stellen muss und hautnah miterlebt, wie ihre Mutter auf den Tod der Großmutter reagiert, die Jules Mutter seit ihrer eigenen Kindheit nicht mehr gesehen hat. Zu der sie keinen Kontakt mehr hatte, seit sie und ihre kleine Schwester in eine Pflegefamilie ziehen mussten.
Und dann gibt es die Vergangenheit. Da begleiten wir Jules Mutter Anna und ihre Schwester Maja durch ihren Alltag in dem kleinen Häuschen am Wald. Ein Alltag, der geprägt ist von Angst und von der Gewalt und Grausamkeit des Vaters gegen seine Frau und seine beiden Töchter. Von der Hoffnung, bald diesen Ort verlassen zu können. Von der Hoffnung, dass die Mutter mit ihnen einfach geht. Doch nichts geschieht.

Kira Mohn lässt diese Zeit sehr lebendig werden. Der Schreibstil ist eindringlich und eindrucksvoll und hat mich das Buch kaum mehr aus der Hand legen lassen.

Als Jule klar wird, dass ihre Mutter als Kind Gewalt erlebt hat, die immer schlimmer eskaliert ist, wird ihr klar, dass der Vorfall mit ihrem Freund sehr wahrscheinlich kein Einzelfall sein wird. Auch wenn dieser sich 1.000 x entschuldigt und seine Liebe beteuert.

Als ebenfalls Betroffene häuslicher Gewalt, die zum Glück hinter mir liegt, konnte ich Jules anfängliche Gedankengänge sehr gut nachvollziehen. Der Unglauben über das, was geschehen ist. Dass sie sich so in ihrem Freund getäuscht hat. Die Hoffnung, dass es nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen ist. Dass sie ihn liebt. Dass alles wieder so sein kann, wie es vorher war.  Dass sie nicht versteht, wie das passieren konnte. Und warum.

Und dann – im Lauf der Geschichte – die Erkenntnis, dass es höchstwahrscheinlich wieder passieren wird und dass es keine gute Idee ist, zu ihm zurückzukehren. Da war ich sehr erleichtert. Denn – und da lügt die Statistik leider nicht – es bleibt nur in den seltensten Fällen bei einmaligen Ausrutschern.  Im Gegenteil. Ein Übertreten der Grenzen setzt die Hemmschwelle für das nächste Mal gleich ein wenig tiefer.

Die Geschichte von Anna und ihrer kleinen Schwester Maja hat mir mitunter Gänsehaut beschert. Die Grausamkeit des Vaters und das Leid der Familie waren schwer auszuhalten. Idyllische Momente gab es nur, wenn der Vater nicht im Haus war. Und sobald er da war, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es wieder eskaliert. Zu Beginn trifft es fast immer nur die Mutter, doch auch das ändert sich im Lauf der Geschichte.

Anna und Maja wollen weglaufen, doch dann geschieht etwas, das Annas Mut auslöscht und ihre Hoffnung auf ein besseres und vor allem gewaltfreies Leben schwinden lässt. Das sie selbst fast zerstört. Aber ich will nicht zu viel von der Handlung verraten. Ihr sollt das Buch ja auch noch lesen wollen.

Aber – und das möchte ich unbedingt noch sagen – das Buch beginnt da, wo die Gewalt schon längst – meistens zu Beginn in kleinen Schritten – Einzug gehalten hat. Es beginnt in den seltensten Fällen mit dem ersten Schlag. Der Prozess ist schleichend. Hier eine Abwertung. Da ein Ignorieren. Da eine Beleidung. Eine Schuldumkehr. Die Liste ist endlos und lässt sich beliebig fortsetzen.

Man mag sich bei der Lektüre im Buch fragen, warum die Mutter nicht einfach mit den Mädchen gegangen ist. Wenn man selbst keine Gewalt erlebt hat, mag das eine berechtigte Frage sein. Aber lass Dir gewiss sein – wenn Du dich das fragst – es ist nie so einfach. Es erfordert Mut. Mut den man in einer solchen Situation nicht mehr hat. Denn wen man an den Punkt angekommen ist, an dem die Gewalt sich auch körperlich zeigt, dann ist von dem Menschen der Gewalt erfährt, meistens nicht mehr viel da. Er hat Angst. Wurde vielleicht von Freunden und Familie isoliert. Ist finanziell abhängig. Wird damit bedroht, die Kinder zu verlieren, wenn er geht. Oder Schlimmeres. Fühlt sich wertlos. Verdient es eben. Muss sich nur mehr Mühe geben. Ist selbst Schuld. Auch hier ist die Liste endlos.

Daher:

„Du verdienst es, geliebt zu werden“ – Seite 285

Und – bevor ich mit dieser Rezension ende – es ist mir eine Herzensangelegenheit – sollte einem von Euch klar werden, dass Menschen in Eurer Umgebung sich in so einer Situation befinden: bietet Eure Hilfe an. Immer wieder. Und habt Geduld. Es braucht Zeit, bis Betroffene sich so viel Mut zurückerobert haben, um gehen zu können. Seid dann da, wenn es so weit ist. Es ist allein so gut wie unmöglich, sich aus so einer Beziehung zu befreien.

Solltest du Dich in so einer Situation befinden:

  1. Du bist nicht schuld!
  2. Frage um Hilfe. Du musst das nicht allein schaffen.

Bei Freunden. Bekannten. Frauenberatungsstellen. Dein Bauchgefühl trügt dich nicht.

Hilfetelefon gegen Gewalt an Frauen: 116 016

Ich danke Kira Mohn von Herzen für dieses wichtige und eindringliche Buch, das mich beim Lesen in eine Zeit zurückkatapultiert hat, die zum Glück schon lange hinter mir liegt.