[Rezensionsexemplar]

Zum Inhalt:

Sommer 2015. Auf der Familienfeier zum 85. Geburtstag von Konrad der Familie Simon-Hauschke kommt es zu einem überraschenden Eklat. Henning Fuchs, der Schwager von Konrad – in den 60iger Jahren aus der ehemaligen DDR geflohen – taucht nach all den Jahren Funkstille auf der Familienfeier auf und überhäuft Konrad und seine Frau (Hennings Schwester) mit Vorwürfen zum Mauerbau. Danach verschwindet er wieder, ohne die Möglichkeit, den Konflikt zu lösen.  Die 20jährige Lou – das Küken der Familie versucht rauszufinden, was damals überhaupt alles geschah und fängt an Fragen zu stellen, die längst hätten gestellt werden sollen…

Meine Meinung:

Die 20jährige Lou – Veganerin. Studentin. Rebellisch und neugierig. Der Eklat auf der Familienfeier beschäftigt sie sehr und sie beginnt Fragen zu stellen und zu recherchieren. Sehr zum Leidwesen ihrer Urgroßeltern, die am liebsten alles totschweigen würden. Doch Lou lässt nicht locker und irgendwann muss die Familie miteinander reden, um all die lange gärenden traumatischen Ereignisse endlich zu überwinden und zu verarbeiten und die Familie wieder zu vereinen.

Die Geschichte spielt in verschiedenen Zeiten und erzählt die Erlebnisse der damaligen Zeit aus der Sicht der verschiedenen Familienangehörigen. Am Anfang fand ich die vielen unterschiedlichen Personen und die Zeitsprünge sehr verwirrend. Die detaillierte Aufstellung vorne im Buch zu den verschiedenen Charakteren hat mir sehr geholfen und ich habe- zumindest zu Beginn – relativ häufig da nochmal die Eckdaten nachgelesen.

An den Mauerfall selbst erinnere ich mich selbst nur noch ganz dunkel. Ein paar Jahre vorm Mauerfall war ich unsere Verwandtschaft in der Nähe von Nordhausen besuchen für eine Woche. Das war schon wie eine andere Welt. Die Bilder vom Konsum und den Menschen und des Ortes sind beim Lesen vor meinem inneren Auge wieder lebendig geworden. Als Deutschland Wiedervereinigung gefeiert hat, war ich zehn Jahre alt. Ich habe das nur am Rande mitbekommen. In der Zeitschrift Bravo, die ich damals schon heimlich gelesen habe, war ein Artikel drin, in dem junge DDR-Bürger geschrieben haben, was sie sich damals vom Begrüßungsgeld gekauft haben. An Lippenstift und Jeans erinnere ich mich noch.

Der Schreibstil ist fesselnd und nachdem man sich beim Lesen sortiert hat, kann man der Geschichte auch gut folgen.

Lou finde ich mutig. Sie weiß ja, dass ihre Familie nicht drüber reden will und lässt trotzdem nicht locker und geht dem Konflikt nicht aus dem Weg. Die Familiengeschichte der Familie Simon-Hauschke ist tragisch und doch kein Einzelfall. Viele Menschen sind geflohen, viele wurden auf der Flucht getötet oder aufgegriffen und verhaftet oder haben ihre Liebsten viele Jahre nicht wiedersehen dürfen. Man wusste nie, wem man trauen konnte. Die Staatssicherheit war überall. Niemals war man sicher.

Der Gedanke, in so einem Regime zu leben, macht mir Gänsehaut. Auf die ungute Art. Der Zorn und die unterdrückte Wut und die Geheimnisse, die jahrzehntelang in der Familie unausgesprochen blieben, eskalieren auf der Familienfeier, von der der Leser aber nur am Rande etwas erfährt. Die Geschichte beginnt kurz nach der Familienfeier. Das fand ich am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig.

Die Familie hat viel Schweres erlebt: Flucht des Bruders, dadurch schlimme Repressalien durch die Stasi, der Ausreiseantrag der nachfolgenden Generation, das zurücklassen müssen der Eltern und des gerade volljährig gewordenen Sohnes. Kurz danach der Mauerfall, die Wiedervereinigung der Familie. So viele Ausnahmesituationen, die man überhaupt erst einmal verarbeiten muss. Was nicht gelingt, wenn man nicht über die Dinge spricht. Aber wie soll man auch darüber sprechen, wenn man in einem Regime lebt, in dem offenes und freies Sprechen schlimme Konsequenzen nach sich ziehen können?

Es dauert viele Jahre und braucht das Engagement vom mutigen Freigeist Lou, bis all diese Erlebnisse und Traumata innerhalb des Familienverbundes auf den Tisch kommen und endlich heilen dürfen. Wenn so etwas überhaupt jemals vollständig heilen kann.

Die Geschichte vereint ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, wahre Erlebnisse mit einem unterhaltsamen Roman, der uns allen das Leben und die Unterdrückung, Verfolgung, die Angst, die Verluste der Liebsten auf die ein oder andere Weise eindrucksvoll und bildgewaltig nah bringt.

Und die einem wieder einmal zeigt, dass ein diktatorisches Regime niemals eine gute Wahl sein kann und so etwas hoffentlich auch keine Wiederholung erfährt.

Ich bedanke mich herzlich beim Bloggerportal und dem C. Bertelsmann Verlag für das Rezensionsexemplar.