[Werbung / Rezensionsexemplar]

Zum Inhalt:

Versicherungsermittlerin Penelope ist auf der Flucht. Nach viel zu langer Zeit hat sie es endlich geschafft, ihren gewalttätigen Exfreund Franco zu verlassen. Auf der Suche nach einem verschwundenen Gemälde, dessen Finderlohn ihr einen Neuanfang ermöglichen soll, strandet sie in den Erzhöfen. Einem Künstlerkollektiv, dass sich im Besitz von Drace befindet. Drace hat seinerzeit das nun verschwundene Gemälde „ROT III“ gemalt, bevor er wegen Mordes an seiner Freundin verhaftet wurde. Doch Angst und Unsicherheit kann sich Penelope nicht leisten, denn sie weiß, Franco ist ihr bestimmt schon auf den Fersen…

 

Meine Meinung:

Der 707 Seiten starke Roman umfasst drei große Themenbereiche: da ist zum einen die spannungsgeladene Geschichte auf der Suche nach dem verschollenen Gemälde und dem Versuch, herauszufinden, was in jener Nacht wirklich geschah als Luna starb, dann geht es um die starke Anziehungskraft zwischen Penelope und Drace und zu guter Letzt geht es um Penelope selbst, wie sie versucht, nach ihrer Flucht ihr Selbstbewusstsein wiederzuerlangen, Vertrauen zu sich selbst und zu anderen Menschen wieder zuzulassen.

Die Geschichte hat mir unwahrscheinlich gut gefallen, auch wenn ich aufgrund meiner persönlichen Situation dieses Mal sehr lange zum Lesen gebraucht habe. Der Schreibstil ist großartig und die Menschen die Penelope in den Erzhöfen kennenlernt, sind wundervolle Menschen:

Da ist zum einen Chris, der als Pornodarsteller arbeitet und gleichzeitig versucht, alles in den Erzhöfen am Laufen zu halten. Für jeden ein guter Freund zu sein. Und gleichzeitig ist er unsterblich in Neoma verliebt, traut sich aber nicht, ihr seine Gefühle zu gestehen.

“Alleine schafft sie es nicht. Es geht nicht darum, was Du von ihrem Projekt hältst, sondern darum, dass wir sie nicht im Stich lassen. Das ist es, was Freunde tun.” – Seite 256

Neoma ist eine feministische Künstlerin, die unter dem Tourette-Syndrom leidet und äußerst kreativ in ihrer Schimpfwörterwahl ist. Mal ehrlich, so viele ungewöhnliche Schimpfwörter sind mir noch nie untergekommen. Bei manchen habe ich sehr herzlich lachen müssen. Sie ist ebenfalls in Chris verliebt, kommt aber nicht damit zurecht, dass er beruflich Sex mit anderen Frauen hat.

Dann ist da noch Mats, den alle nur der Belgier nennen und Ajax ein jugendlicher Graffitikünstler, der eigentlich zu jung ist für die Erzhöfe, aber trotzdem keinen anderen Ort sein Zuhause nennen kann.

Und Kadeen, der in seinen kreativen Schaffensphasen weder spricht noch irgendetwas anderes macht, außer sich seinen Projekten zu widmen. Der aber dennoch sehr klug ist. Und oftmals mit seinen wenigen Worten sehr viel Eindruck schafft.

Und Zack. Der auch etwas für Neoma empfindet (was Chris wiederum ein Dorn im Auge ist) und im Rollstuhl sitzt, sein Schicksal jedoch mit Bravour meistert.

Zu guter Letzt ist dann noch der geheimnisvolle Drace: gutaussehend, düster, künstlerisch hochbegabt. Er schert sich nicht darum, was andere Menschen von ihm denken. Konventionen sind ihm ein Gräuel. Er geißelt sich selbst wegen Lunas Tod. Dabei erinnert er sich nicht einmal daran, was in jener Nacht wirklich geschah. Doch er kann auch nicht an seine Unschuld glauben. Und als Penelope in sein Leben stolpert und mit ihrer unglaublichen liebevollen und fröhlichen Art ihre Seele in seine Hände legen will, ist er drauf und dran, sie wegzustoßen. Zuviel Angst herrscht in ihm. Angst, ihr könnte das gleiche Schicksal widerfahren wie Luna. Und doch liebt er Pepe so sehr, dass es wehtut. Und er wünscht sich von Herzen, unschuldig zu sein. Die Vorstellung, sie zu verlieren macht ihm unbeschreibliche Angst. Gleichzeitig hat er sich noch nie so lebendig gefühlt, wie seit dem Moment, in dem sie in sein Leben kam.

“Weißt Du noch, was Du früher immer gesagt hast? Wenn man die Regeln bricht und die Welt dreht sich dann trotzdem weiter, dann sind die Regeln überflüssig. Ich denke, du hattest Recht” – Seite 144

“Er wollte spüren, wie sie um ihn herum in ihre Bestandteile zerfiel. Wie sie beide sich umeinander neu zusammenfügten und zu einer Einheit wurden, die keine Ängste, kein Bedauern, keine Einsamkeit kannte. Ein Wesen, das aus purem Glück bestand.” – Seite 445

Und Pepe… fast hätte ich vergessen, auch noch etwas zu ihr zu schreiben: Pepe geht unter die Haut. Tapfer, stark und kämpferisch. Und zu tiefer Liebe und Zuneigung fähig. Trotz des erlebten Albtraums.  Ihre Empfindungen, die durch ihre Erfahrungen und die brutalen Attacken ihres “Freundes” geprägt sind, haben mich beim Lesen sehr berührt.

“Es ist nicht meine Schuld, dass er mich so behandelt, redete sie sich zu. Vielleicht konnte sie es eines Tages glauben” – Seite 45

Trotz allem verliert sie nicht den Mut, für ein besseres Leben zu kämpfen. Sie ist nicht vollends gebrochen worden und sie dabei zu begleiten, wie sie langsam, aber stetig zu sich selbst zurückfindet, hat mich tief berührt. Was für eine starke Persönlichkeit. Großartig.

“Du kannst tausend Fehler machen, aber mache keinen zweimal” – Seite 40

Trotz allem braucht sie sehr lange, bis sie sich ihren neuen Freunden wirklich anvertrauen kann. Zu groß ist die Angst, dass niemand ihr glaubt und verstehen kann, warum es so schwer war, Franco zu verlassen:

“Sie hatte Christine nur sehr wenig von dem erzählt, was Franco ihr angetan hatte, doch selbst das hatte Christine bereits überfordert. Sogar die Spuren an Pepes Körper hatten sie nicht vollends überzeugt. Aber er ist doch immer so lieb und aufmerksam zu Dir, hatte sie ratlos gesagt. Er fährt dich überall hin und verbringt so viel Zeit mit dir. Und er sieht echt gut aus” – Seite 45

“Er hat Reue gezeigt, hat geweint und sich um mich gekümmert, hat sich aufrichtig entschuldigt und mir erklärt, dass er nur wegen mir die Beherrschung verloren hat. Ich habe ihm geglaubt. Ich weiß, dass ich nicht perfekt bin. Ich bin nicht ordentlich genug, nicht pünktlich genug, nicht klug genug. Aufmüpfig, anstrengend, uneinsichtig, sturköpfig.” – Seite 447

“Wenn man einmal von einem Menschen schlecht behandelt wurde, hörte man nicht automatisch auf, diesen Menschen zu lieben. Man sucht nach Entschuldigungen und Rechtfertigungen.”- Seite 533

“Er hatte ihren freien Willen mit körperlicher und psychischer Gewalt zermalmt, bis nur noch Staub übrig gewesen war. Penelope hatte diesen Staub aufgesammelt und sich neu erschaffen.” – Seite 450

Die Geschichte hat alles, was einen wirklich guten Roman ausmacht: Fesselnder Schreibstil, Spannung, tolle Charaktere, einen interessanten Ort, Liebe, Dramatik.

Doch was ich besonders erwähnenswert finde, ist der Umgang der Autorin mit der von Penelope erlebten häuslichen Gewalt. Die Gefühle und Gedanken, die Menschen in solchen Situationen durchleben, hat Catalina Cudd auf empathische Weise verstanden und in ihrem Roman zu Papier gebracht.

Penelopes Angst, ihre Unsicherheit, dass Gefühl, niemand wird ihr Glauben schenken, denn Franco ist charismatisch und nach außen hin ein famoser Charakter sind so realistisch, dass ich das Buch manches Mal kurz zur Seite legen musste.

Einen besonderen Dank möchte ich an die Autorin für ihr Nachwort aussprechen. Tatsächlich habe ich ihr Nachwort zuerst gelesen:

Danke Catalina Cudd für diese ergreifende Geschichte, für den behutsamen und berührenden Umgang mit dem Thema “Häusliche Gewalt” und vor allen Dingen für ihr klares und eindringliches Nachwort, aus dem ich gerne den ein oder anderen Teil mit Erlaubnis der Autorin zitieren möchte:

“Häusliche Gewalt ist ein Thema, das in den Medien immer noch als Familiendrama verharmlost wird. Wenn darüber geredet wird, dann nur im Sinne von “Warum hat sie ihn denn nicht verlassen?” oder “Es wird schon seine Gründe haben, warum ihm die Hand ausgerutscht ist”. Bei häuslicher Gewalt – genau wie bei einer Vergewaltigung – muss das Opfer erst einmal beweisen, dass gegen es eine Straftat verübt wurde. Bis dahin gilt es irgendwie als mitschuldig. Bei allen anderen Straftaten wird der Täter außer Reichweite der gefährdeten Person gebracht. Bei häuslicher Gewalt jedoch wird in dem Opfer erwartet, sich der Gewalt zu entziehen und somit dem Täter das Feld zu überlassen. 

Und immer steht die Frage im Raum “Warum ist sie bei ihm geblieben? Warum hat sie ihre Kinder nicht in Sicherheit gebracht? Warum ist sie wieder zu ihm zurückgekehrt?” 

Eine Trennung vom Täter bedeutet für das Opfer in der Regel kein Entkommen. Frauenhäuser sind überbelegt: sechs von zehn Hilfesuchende müssen abgewiesen werden. 

Jeden Tag versucht ein Mann, seine Expartnerin zu töten. Alle drei Tage gelingt es ihm (Deutschland, Stand 2019). (…)

Körperliche Gewalt ist nur das sichtbare Ende eines komplizierten Machtprozesses, bei dem das Opfer nicht selten über eine lange Zeit psychisch zermürbt, permanent erniedrigt und beleidigt, isoliert, bedroht und schließlich gebrochen wurde. Nach außen hin ist dieser Prozess nicht sichtbar, der Täter gilt oft als eloquent, freundlich, unauffällig, während das Opfer kaum mit jemandem redet, und überhaupt einen seltsamen, verhuschten Eindruck macht. 

Das Opfer fühlt sich als Versagerin, wenn es der Gewaltbeziehung zu entfliehen versucht, als unfähig und unwürdig, jemals wieder geliebt zu werden. Wenn es eine längere Gewaltbeziehung hinter sich hat, fehlt ihm die Kraft, sich allein einer unsicheren, ungewissen Zukunft zu stellen. Es kehrt lieber zurück in den gewohnten Kreislauf aus Prügel und fragilen Ruhephasen, mit denen es umzugehen gelernt hat und der ihm wohl vertraut ist. 

Bei vielen Müttern kommt oft noch die finanzielle Abhängigkeit hinzu. Auch das Grauen eines Sorgerechtstreits hält viele Frauen davon ab, aus einer gewalttätigen Beziehung zu flüchten. Viele Gewalttäter dürfen weiterhin Umgang mit ihren traumatisierten Kindern haben. (…)

Viele Opfer glauben anfangs fest, dass der Täter sich ändern kann, wenn man nur die Gründe vermeidet, die für Gewalt gesorgt haben. (…)

Die Schuld liegt allein bei ihnen, mit ihrer Unvollkommenheit treiben sie den Partner so weit, dass der sich nur noch mit Gewalt zu helfen weiß.(…)

Hier finden Betroffene Hilfe:

Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 0800 011 6016 (hilfetelefon.de)

Hilfetelefon Gewalt gegen Männer: 0800 123 9900 (maennerhilfetelefon.de)

Wenn Du glaubst, dass eine dir nahestehende Person betroffen ist, findest Du hier Unterstützung:

www.re-empowerment.de/hilfe-finden/wie-helfe-ich-bei-gewalt

Penelopes Geschichte passiert jeden Tag in Deutschland. Immer und immer wieder. Niemand redet drüber. Offiziell gibt es Hilfen wie Frauenhäuser, wir haben die Istanbul-Konvention und Hilfe-Telefone, die jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sind.

Die Coronakrise hat dieses Problem noch verschlimmert. Viele Frauen (und auch Männer) sind mit ihren gewalttätigen Partnern nun fast ununterbrochen auf engem Raum zusammen. Keine Möglichkeit Abstand zu finden, sich selbst zu schützen, Hilfe zu holen. Finanzielle Sorgen verschlimmern die angespannte Situation.

Ich kann an dieser Stelle nur immer wieder betonen: Seht nicht weg. Seid aufmerksam. Bietet Hilfe an, wenn Euch etwas auffällt. Und bleibt vor allen Dingen am Ball. Denn die betroffenen Personen müssen erst den Mut fassen, sich trennen zu wollen. Denkt nicht, es geht Euch nichts an. Denn es geht Euch was an. Ihr könnt helfen. Alleine ist es so gut wie unmöglich, sich aus so einer Beziehung zu befreien.

Danke!